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Morgens, wenn der Wecker klingelt, checkt Jonas zuallererst sein Handy. Nicht für Instagram oder Twitter. Jonas sucht einen „Schnapper“, wie er sagt. Er öffnet einen Marktplatz in seinem Webbrowser. Zwei Listen ploppen auf: eine für das, was Jonas noch kaufen kann und eine für das, was schon verkauft wurde. Die Preise sind fast ausschließlich dreistellig, ein paar gibt es auch für 85 Dollar. Die aber fallen nicht unter die Kategorie „Schnapper“, wie Jonas sie sucht. Er findet keinen, sein digitaler Geldbeutel bleibt zu. Erst jetzt startet er in den Tag.
Jonas, der seinen richtigen Namen lieber nicht nennen möchte, sucht nicht nach Aktien oder Kunstobjekten, sondern spielt Axie Infinity. Ein Blockchain-Game, entwickelt von der vietnamesischen Firma Sky Mavis. Darin dreht sich alles die namensgebenden Axies, kleine Monster, die im Kern an Pokémon angelehnt sind.
Jedes Axie ist ein non-fungible Token, oder kurz: ein NFT. Dabei handelt es sich um eine Echtheitszertifikat für ein dazugehöriges virtuelles Objekt, das auf einer Blockchain gespeichert wird. Wer ein NFT erwirbt, erwirbt also Eigentumsrechte an einem digitalen Gut, beispielsweise einer Zeichnung, einem virtuellen Grundstück, oder eben einem Axie.
Axie Infinity basiert auf dem Konzept „Play-to-Earn“, kurz P2E. Die Bezeichnung ist selbsterklärend: Wer spielt, erwirtschaftet sich zwei Währungen des Spiels, nämlich „Smooth Love Potion“ (SLP) und „Axie Infinity Shards“ (AXS). Bei beiden handelt es sich um sogenannte Tokens. Diese Tokens laufen über die Blockchain von Ethereum, unterscheiden sich untereinander aber in der Anwendung.
„Ich denke vor dem Schlafengehen und direkt nach dem Aufstehen an Axie“
AXS ist hinsichtlich seiner Funktion etwa vergleichbar mit normalen Aktien. Die Spieler*innen können durch ihre Stimmrechte bei der Entwicklung der Plattform mitbestimmen. Sky Mavis selbst geht davon aus, dass das Unternehmen bis 2023 keine Mehrheitsrechte mehr hat, und Axie Infinity einige Zeit später dann vollkommen dezentralisiert ist.
Während die Anzahl an AXS auf 270 Millionen Stück gekappt ist, gibt es bei SLP, die man durch Absolvieren täglicher Aufgaben bekommt, keine Obergrenze. Im Gegensatz zu AXS kann SLP aber auch verbraucht werden, nämlich durch das Züchten von Axies. Beide Tokens haben einen realen Wert, der aber, wie bei anderen Spekulationsobjekten, zwischen 140 Euro bis 0,08 Euro schwankt. Axies sind also im Kern ein spekulatives Finanzprodukt.
Dessen ist sich Jonas bewusst. Er ist schon länger Teil der Community, vor eineinhalb Jahren hat ihn Axie Infinity in den Bann gezogen. Damals war es einer seiner Kumpels, der die erste Hürde des NFT-Games nahm. Denn eine bloße Registrierung reicht bei Axie Infinity nicht.
Um spielen zu können, müssen sich Spielende drei Axies kaufen. Der Preis ist von Angebot und Nachfrage, sowie den Fähigkeiten der Axies bestimmt. Das teuerste, je verkaufte Axie soll beispielsweise 115 ETH gekostet haben. Zum Zeitpunkt des Verkaufs dürften das um die 375.000 Dollar gewesen sein. Heute beträgt der Wert des Axies über 1,5 Millionen Dollar.
40 Prozent der Erträge kommen von „Scholars“
Jonas hat für seine ersten drei Axies zwischen 800 und 900 Euro bezahlt. „Das war keine große Hürde für mich“, sagt er heute. Denn ab Tag 1 erarbeite man sich das Geld zurück, oder zumindest erarbeite man sich einen „Wert“. Er formuliert das so, weil er sich das Geld nicht auszahlen lässt. Jonas reinvestiert das SLP, das er erwirtschaftet, um dann neue Axies zu brüten und diese wiederum auf dem Marktplatz anzubieten.
Axies kann man aber nicht nur verkaufen, man kann sie auch verleihen. Verleihende bekommen 40 Prozent der monatlichen Erträge ihrer „Scholars.“ Diese Funktion hat sich in weiten Teilen Südostasiens verselbstständigt. Besonders in den Philippinen ist es zu einem erstrebenswerten Job geworden, Axie Infinity zu spielen. Denn das Spiel bietet Einheimischen in seltenen Fällen ein höheres Einkommen als ihr Hauptberuf. Das ist aber nur bei besonders erfolgreichen Spieler*innen der Fall. Der Großteil der Menschen bleibt weit unter der durchschnittlichen Einkommensgrenze.
Sky Mavis geht davon aus, dass rund 55 Prozent aller Axie-Spieler*innen aus den Philippinen kommen. 65 bis 70 Prozent aller Spieler*innen stammen allgemein aus Südostasien, und mit geschätzten 65 Prozent sind die Mehrheit aller Spieler*innen von Axie Infinity sogenannte Scholars. Jonas macht das mit seinen Axies auch. Er züchtet und verleiht. Er betreibt auch einen eigenen YouTube-Channel, der größte seiner Art im deutschsprachigen Raum für Axie-Infinity-Inhalte. Nebenher coacht er Spieler*innen und hilft ihnen, Anfängerfehler zu vermeiden.
Das alles kostet den Berliner Studenten viel Zeit: Drei Stunden am Tag spielt er selbst, den Rest seiner Freizeit verbringt er zu 70 Prozent mit Coaching und zu 20 Prozent mit dem Kontakt zu seinen Scholars. „Ich denke vor dem Schlafengehen an Axie Infinity und es ist mein erster Gedanke, wenn ich aufstehe“, schildert der 28-Jährige. Dann Schnapper suchen, dann in den Tag starten.
So rosig sich das alles anhören mag – Axie Infinity hat ein Problem. Beziehungsweise hat die spieleigene Wertschöpfungskette ein Problem. Analyst*innen der Consulting-Firma Naavik haben ermittelt, dass das Angebot von SLP mittlerweile die Nachfrage übersteigt und die Tokens entwertet.
Ein weiteres Problem ist die Überpopulation an Axies. Durch steigende Nutzer*innenzahlen und der gestiegenen Popularität an Scholarships steigt auch die Zahl der Züchtungen. Dadurch sinken die Einstiegspreise der Axies merklich. Da SLP durch das Züchten neuer Axies verbrannt wird, Züchtungen aber immer weniger werden, weil der Großteil der Spieler*innen Scholars sind, bleibt auch mehr SLP im Umlauf.
Befeuert wird diese Entwicklung dadurch, dass sich die Scholars in aller Regel ihr SLP in echtes Geld umtauschen lassen. Dadurch verbrennt SLP aber nicht, sondern wechselt nur die Wallet – und bleibt folglich im System. Sowohl AXS als auch SLP können von Investor*innen auch dann über Wallets gekauft werden, wenn sie Axie Infinity selbst nicht spielen. Sie spekulieren also auf die Kurse, ohne das Spiel zu spielen.
Valve zieht im Oktober 2021 die Reißleine
Sky Mavis ist sich diesen Problemen bewusst. Wenn diese nicht ausgemerzt werden, bricht die Ökonomie von Axie Infinity eines Tages vollständig ein, und all jene, die SLP oder AXS besitzen, erleiden im schlimmsten Fall einen Totalverlust.
Einen Großteil ihrer Werte haben die Coins schon einbüßen müssen: Ende Januar bewegte sich AXS um die Marke von 45 Euro herum, SLP fiel auf unter 0,008 Euro. Vermutlich hat das Unternehmen Valve deshalb Axie Infinity und vergleichbare NFT-Games im Oktober von Steam verbannt.
Eine offizielle Begründung gab es nicht; in der Vergangenheit kam es aber bereits des Öfteren vor, dass Spieler*innen in NFT-Games um ihr eingesetztes Geld gebracht wurden. Ein unrühmliches Beispiel ist „Evolved Apes“: Eine Woche, nachdem das NFT-Projekt live ging, verschwand der Entwickler spurlos mit insgesamt 798 ETH. Umgerechnet waren das zu jenem Zeitpunkt etwa 2,7 Millionen Dollar.
„Es ist eine Illusion“
Um einen Wertverfall der Axie-Tokens zu verhindern, muss mehr Geld in das System fließen, als aus ihm herausfließt. Das könnte mit anderen NFTs erreicht werden. Ein „mystisches Grundstück“ etwa, das an für sich ein NFT und damit also auch ein Unikat ist, wird auf dem Axie-Marktplatz für satte 70.000 Dollar angeboten.
Dazu gibt es auch Items, deren Preise mindestens genauso utopisch hoch scheinen. Einen Korb mit bunter Wolle gibt’s für 1.800 Dollar, ein kleines Plüsch-Axie schlägt mit 13.800 Dollar zu Buche.
Aufgrund dieser Mechaniken sehen manche in Axie Infinity und generell NFTs ein Pyramidenschema, das irgendwann implodiert. Einer von ihnen ist Lars Doucet, Mitgründer des Gamestudios Level Up Labs in Texas und einer der Autor*innen hinter der Naavik-Analyse. Er glaubt nicht daran, dass Axie Infinity das Geschäft auf ewig aufrechterhalten kann. „Play-to-Earn bedeutet im Grunde nur, dass du die Spieler*innen dafür zahlst, dass sie spielen. Dadurch wandeln sie sich von Spieler*innen zu Arbeiter*innen“, erklärt Doucet.
Das wiederum sähe zunächst natürlich super in Sachen Wachstum aus. „Aber es ist eine Illusion. Diese Leute sind im Kern nicht loyal zur Plattform, sobald du sie nicht mehr bezahlst, sind sie weg.“ Und wenn die Einstiegskosten zu hoch sind, bleiben potenzielle Spieler*innen weg. Aus diesem Grund habe man das Scholar-System eingeführt.
„Damit wird die ganze Sache crashen. Die Scholars müssen nicht vorab hohe Summen zum Reinkommen zahlen und generieren nur etwas Geld, wovon der größte Teil an die Manager*innen geht. Sie haben keinen Grund zu bleiben, sobald ihr Anteil noch weniger wird.“
Lars Doucet
Geld wiederum könne nur aus zwei Quellen kommen: Investor*innen oder neuen Spieler*innen, die neue Axies kaufen. Über die Zeit werde eine davon, oder sogar beide versiegen, schätzt Doucet. „Und dann hat eine Play-to-Earn-Ökonomie keine andere Wahl mehr als zusammenzubrechen, denn es gibt kein Geld mehr, das man den bestehenden Spieler*innen auszahlen könnte.“
Gameplay ist bei Blockchain-Spielen nur ein Nachgedanke
Genau das prophezeiten Doucet und seine Co-Autorinnen, als die Analyse am 12. November 2021 veröffentlicht wurde. Seither fiel SLP wie von ihnen erwartet auf einen Wert von weniger als einem Cent, nachdem er nur wenige Monate zuvor auf rund 30 Cent notierte. Einen „incredible crash“ nennt es der Developer aus Texas, der sich durch diese Entwicklung bestätigt sieht.
Nicht nur Axie Infinity hat aus seiner Sicht diese Probleme, viele andere Blockchain-Games kämpfen mit ähnlichen Schwierigkeiten. „Am Ende des Tages muss eben mehr Geld reingehen als an anderer Stelle raus fließt, ganz einfach“, bekräftigt Doucet. Dadurch seien diese Systeme vom ineffizienten Play-to-Earn zu „Play-and-Earn“ übergegangen, was bedeute, dass nur manche Spieler*innen verdienen – und nicht alle.
Ein ähnliches Spiel, was aber im Vergleich zu Axie Infinity im Prinzip funktioniert, ist ZED RUN. Ein Pferderennspiel, bei dem virtuelle Pferde gezüchtet und gekauft werden können, und bei dem Spieler*innen erwarten, dass sie auch Geld verlieren.
Doucet formuliert es so: Man zahlt Geld in einen Topf, von dem am Ende die Besitzer*innen der drei schnellsten Pferde etwas abbekommen. Es herrscht also nicht von jedem*r Teilnehmer*in die Erwartung, Profit rauszuschlagen. Das Geld wiederum, das die meisten verlieren, wird nur an die Gewinner*innen ausgezahlt: Es fließt mehr Geld rein, als raus läuft.
Würde man das System von Grund auf neu bauen, würde der Blockchain-Experte aus Texas so vorgehen: „Man könnte jedem*r Spieler*in über Governance-Token ein Stück des Spiels überschreiben, quasi wie bei Aktien in Unternehmen. Das Spiel müsste so aufgebaut sein, dass du mit investierter Zeit oder investiertem Geld vorankommen kannst. In dieser Situation wäre es so, dass jede*r, der*die in die Tasche greift, alle anderen Spieler*innen zahlt, die ihre Zeit reinstecken.“
Der Schwachpunkt an diesem System sei aber, dass man dadurch „Goldfarmers“ anlocken würde. „Das bringt die Ökonomie ins Schwanken und zieht unerwartete Konsequenzen nach sich“, merkt Doucet an. Sein größter Kritikpunkt an Blockchain-Spielen ist, dass das Gameplay in den meisten Fällen nur ein Gedanke sei, der den Entwickler*innen erst im Nachhinein käme und die finanziellen Features im Mittelpunkt stünden.
Von NFTs an sich versprechen sich viele Crypto-Fans eine Revolution für Kunstschaffende: Über das dezentrale Blockchain-System solle erreicht werden, dass Künstler*innen ihre Werke unabhängig monetarisieren können und vor Diebstahl geschützt sind. Dabei ist so ziemlich das Gegenteil der Fall. Doucet nennt das „Degraded Blockchains“.
NFTs sind auf der Blockchain in Form von Zahlen- und Buchstabenreihen einzigartig und können dort einem*r Besitzer*in eindeutig zugeordnet werden („Proof of Ownership“). Was hingegen problematisch ist, ist das Artwork selbst, das das NFT repräsentiert: „Das, was mir als Käufer am Ende etwas bedeutet, ist nicht geschützt, was einen Widerspruch darstellt“, erklärt der Experte. Er kenne etliche Künstler*innen, die so in der Vergangenheit um ihr geistiges Eigentum gebracht wurden.
Axie Infinity finanziert einem Familienvater die Geburtstagsfete
Jonas macht sich keinen Kopf über diese Entwicklung, da er sich nicht auf Axie Infinity für seinen Lebensunterhalt verlässt. Er will sich erstmal auf private Coachings und eigene Scholars konzentrieren. Axie Infinity hat sich zu einem sehr großen Teil seines Alltags entwickelt. Besonders die Coaching-Sessions rauben ihm die Zeit.
Jedes Mal, wenn er WhatsApp öffnet, ploppen drei oder vier neue Fragen von insgesamt 30 Menschen auf, die er betreut, zusätzlich zu seinen 15 Scholars. Und dann wäre da ja noch sein YouTube-Kanal, der gerade durch die Decke gehe, weil immer mehr Leute auf Axie Infinity aufmerksam würden.
Den Großen ein Stück vom Kuchen klauen
So freizeitfressend das auch ist, Jonas macht das mit großer Leidenschaft.Die Blockchain-Technologie hält er für eine Revolution, in wenigen Jahrzehnten sieht er vieles, wenn nicht alles auf dem Planeten mit dieser Technologie verknüpft. Beruflich will er sich deswegen auf Blockchains spezialisieren, und da kommt Axie Infinity gerade recht. „Ich will mich künftig aber nicht nur auf Axie konzentrieren, sondern meine Assets auch diversifizieren. Ich sehe das als langfristige Vision und Investition“, schildert der 28-Jährige.
Das Konzept von Axie Infinity ist aus seiner Sicht eine „Revolution“, weil jeder durch AXS Anteile am Spiel halten könne. „Man kriegt vom großen Kuchen eben nicht nur Krümel ab, sondern ganze Stücke“, erklärt der YouTuber. „Im Gegensatz zu den großen Playern Sony und EA, die alles selber einstecken.“ Wenngleich er selbst ein größeres Stück bekommt als das, was seine Scholars erarbeiten.
Dennoch: Ein „schöner Nebeneffekt“ von Jonas’ Axie-Leidenschaft seien die Rückmeldungen, die er bekommt. Besonders berühren ihn Nachrichten von den Menschen in den Philippinen.
Einmal hätten sie eine Spendenaktion gestartet und mit dem erwirtschafteten Geld ärmeren Menschen ermöglicht, Lebensmittel zu kaufen. Reis, Gemüse, Obst. In einer Familie habe er schon an drei Mitglieder Axies verliehen. Für den Vater wurde eine große Geburtstagsfeier geschmissen. Es gab Kuchen und sogar ein geröstetes Schwein. Philippinische Luxusgüter.
„Ich bin sehr happy, diese Chance zu haben“, sagt Jonas. Einen Heiligenschein wolle er dafür jedoch nicht aufgesetzt bekommen. Er sei immerhin auch ein Investor und bekomme für das Verleihen seiner Axies einen 40-Prozent-Anteil. „Aber es hilft einfach“, sagt er.