Pokémon-Legenden: Arceus ist mehr Recyclingdose als Triple-A-Titel

Pokémon-Legenden: Arceus sollte das bewährte Game-Freak-Franchise in neue Gewässer befördern. Dabei ist das Game aber mehr Costa Concordia als Triple-A-Flaggschiff. Eine Kritik.

„Mama, glaubst du, es gibt Pokémon irgendwann im echten Leben?“ Diese Frage habe ich exakt ein Mal in meinem Leben gestellt. Mama und ich standen damals abends im Garten, ich mit großen Augen, sie mit fragendem Blick. Papa hatte mir eine Woche zuvor einen kleinen Pokéball aus Plastik gekauft. Die logische Konsequenz daraus war, die Gelegenheit jetzt endlich beim Schopfe zu packen und meine Karriere als Pokémon-Trainerin zu starten. Also, Mama? Sie zögerte kurz: „Irgendwann gibt es sie bestimmt wirklich.“ 

Irgendwann ist ein kritischer Zeithorizont, wenn man Kind ist. Irgendwann kann morgen nach der Schule sein, nach dem Einkaufen, nach dem nächsten Geburtstag oder wenn wieder Weihnachten ist. All das habe ich abgewartet, Jahr für Jahr aufs Neue. Und heute, mit 22 Jahren, habe ich noch immer kein echtes Rayquaza an meiner Seite.

Aber ich habe jetzt ein Pokémon-Spiel, das mir dieses Realitätsgefühl geben will, auf das ich seit Kindheitstagen warte. Es ist der erste Titel, der im Grunde sagt: Du kannst endlich wie Ash Ketchum sein, also schnapp dir deinen Rucksack und ab mit dir. „Pokémon-Legenden: Arceus“ heißt das neue Flaggschiff von Game Freak, das das Franchise in neue Gewässer befördern soll. Ob das gelungen ist, ist eine andere Frage.

Ich sehe was, was du nicht bist

Das Kurzfazit? Arceus ist ein Mashup aus mehreren Spielen. Mehr ein grob recyceltes Konstrukt mit offensichtlicher Inspiration aus Zelda: Breath of The Wild, vielleicht einer Prise Skyrim, Titeln der Pokémon-Mystery-Dungeon-Reihe und sogar Undertale. Um konkreter zu werden: Arceus besteht zu einem Großteil aus Dingen, von denen Game Freak weiß, dass sie bei den Spieler*innen ankommen. Der Rest ist eine Mischung aus Wagnis und durchaus beeindruckender pokémonischer Revolution.

Das Spiel startet mit einem schwarzen Bildschirm, in der Mitte erstrahlt gelbes, funkelndes Licht. Eine Stimme, die sich als Arceus zu erkennen gibt, erklärt mir, dass ich mich in einem Raum jenseits der Welt befinde. Ich bekomme die kryptische Aufgabe, „alle Pokémon“ aufzusuchen, ehe ich Arceus wiedersehen darf. Dann lässt mich das gottähnliche Wesen in einen dunklen, schwerelosen Raum fallen. Aus Schock zapple ich etwas unbeholfen umher, bis mir das Smartphone aus der Pyjamahose rutscht. Ich greife panisch danach (eine wohl zeitgemäße Reaktion), bleibe aber erfolglos. Mein Smartphone schwebt davon.

Originell oder kopiert? Die Anfangssequenz von Legenden Arceus kommt bekannt vor.

Plötzlich ist das gelbe Funkellicht zurück. Mir gegenüber erscheint jetzt erstmals Arceus in visueller Form. Mein Smartphone schwebt zu ihm, es glitzert kurz, leuchtet dann hell auf und wird von Arceus zu mir zurückgeleitet. Ich, sichtlich erleichtert darüber, mein scheinbar heiliges Gerät wieder in Händen zu halten, schwebe jetzt auch in Richtung Arceus. Dann wird der Bildschirm weiß. Das Logo des Spiels erscheint. 

What. The. Fuck?!

Hier saß ich also, war bei Minute zwei angelangt und wollte bereits abbrechen. Und da hatte ich mir noch nicht mal den ersten Gin Tonic eingeschenkt.

Ich spiele Pokémon seit ich denken kann. Ich habe über die Jahre viele Fehltritte von Game Freak toleriert, ich habe jedes Spiel gekauft und durchgezockt. Ich bin es gewohnt, mich auf neue Titel dieses Hauses erst einlassen zu müssen. Aber, bei aller Liebe, wer hat dieses Intro geschrieben?

Zwei Minuten, nachdem ich das Spiel gestartet hatte, wollte ich schon wieder aufhören. Ironischerweise hatte ich wenige Tage, bevor das Spiel erschien, auf Twitter geschrieben, dass ich dieses Review wie folgt titeln würde: „So viele Gin Tonics braucht ihr, um nicht nach zwölf Minuten abzubrechen“. Tja, hier saß ich also, war bei Minute zwei angelangt und wollte bereits abbrechen. Und da hatte ich mir noch nicht mal den ersten Gin Tonic eingeschenkt. 

Dabei ist es nicht mal das Intro-Setting insgesamt, das ich so unfassbar schlecht finde. Ich mag das Mysterium, das um Arceus gesponnen wird, ich mag die wirre Aussage, ich solle erst „allen Pokémon begegnen“, ehe ich zurückkommen darf, ich mag diesen unbekannten Raum, in dem ich hilflos umhertreibe. Aber es sind die Kleinigkeiten, die mir das Erlebnis ruinieren. 

Ein Beispiel: Arceus fragt direkt zu Beginn nach meinem Aussehen. Auf dem Bildschirm erscheint daraufhin eine Auswahl verschiedener Gesichter, aus denen ich dasjenige aussuchen soll, das mir am ähnlichsten sieht. Dann fragt Arceus nach meinem Namen. Es ploppt die dunkelgraue Tastatur der Switch auf, über die ich mühsam meinen Namen zusammenstupfe. Was für Atmosphärekiller. Und was hat eigentlich ein Smartphone hier zu suchen?

Ganz klar: Wer braune Haare hat, kann nicht weiß sein.

Dadurch, dass diese – für ein Videospiel eigentlich kritische – Anfangszeit zweifach durch Meta-Einstellungen unterbrochen wird, fühle ich mich kein bisschen wie ein Teil der Geschichte. Eher wie das, was ich ja wirklich bin: eine von außen, die das Abenteuer miterlebt – aber nicht lenkt. Warum nicht vor Beginn des Spiels diese Einzelheiten klären, um das Intro ungestört zu lassen?

Einflüsse aus vergangenen Zeiten

Der Grund, weshalb ich den Einstieg von Pokémon-Legenden: Arceus so kleinlich begutachte, ist ein ganz einfacher: Er ist eine leicht abgeänderte Kopie einiger Pokémon-Spin-Offs, die nur die wenigsten kennen dürften: Pokémon Mystery Dungeon: Erkundungsteam Himmel, beziehungsweise Team Blau und Rot. Und die wiederum sind nur einige von mehreren Spielen, an deren Attributen sich Game Freak ohne Scham bedient hat. Mystery Dungeon aber ist die Reihe, deren Einfluss am offensichtlichsten ist.

Gleichzeitig muss ich diesen Kritikpunkt etwas relativieren, denn in der Videospielbranche wurden endlos viele Ideen schon endlos oft umgesetzt. So wie Skyrim ein Open-World-Game ist, ist auch Zelda: Breath of the Wild ein Open-World-Game. Und trotzdem unterscheiden sie sich wie Tag und Nacht. Insofern kann ich Pokémon-Legenden: Arceus nicht vorwerfen, nicht individuell genug zu sein, denn das ist es – wenn ich es als Pokémon-Spiel betrachte. Betrachte ich es aber nüchtern als eigenständiges Videospiel, so muss ich mich dann doch fragen, warum dieser Titel existiert – abgesehen von Profitstreben.

Bevor ich weitererzähle, was nach dem Intro passiert, schildere ich kurz die ersten Minuten von Pokémon Mystery Dungeon: Erkundungsteam Himmel. Das ist insofern wichtig, da ich unterstreichen muss, dass dieses Spiel nichts „Neues“ ist. 

Ja, das fragte ich mich auch. Mehrfach.

Pokémon Mystery Dungeon: Erkundungsteam Himmel startet mit einem komplett schwarzen Bildschirm. Ich werde von einer Stimme begrüßt, die mir sagt, dass ich vor dem Portal stehe, das in die Welt der Pokémon führt. Danach falle ich aus dem Portal in die mir unbekannte Welt.

Ich werde an einem Strand angespült und von einem Pokémon aufgeweckt, das sich um mich sorgt. Außer meinem Namen weiß ich nichts mehr – weder woher ich komme, noch wer ich bin oder wie ich an diesem Strand gelandet bin. Das Pokémon erklärt mir, wer es ist und was es in dieser Welt erreichen möchte. Unter anderem: einer Gilde beitreten und ein Erkundungsteam gründen, um die Region zu erforschen. 

Meine Aufgaben bestehen darin, Missionen zu absolvieren, Belohnungen zu erhalten und im Rang aufzusteigen. Im Laufe der Story kristallisiert sich heraus, dass die Zeit auf dem Planeten langsam aber sicher zum Stillstand kommt. Am Ende offenbart sich, dass jemand, der mir eigentlich wohlgesonnen war, der wahre Schurke ist. Ich kämpfe gegen ihn – und rette die Welt. 

Pokémon Mystery Dungeon: Team Blau und Rot spielen sich ähnlich ab. Mit dem Twist, dass ich mich im Laufe der Story zur Antagonistin wandle. Ich werde an einem Punkt aus der Heimatstadt verbannt und von anderen Rettungsteams gesucht und gejagt, weil ich den Untergang der Welt zu verantworten haben soll. Ein paar von ihnen bleiben mir gewogen und unterstützen mich dennoch. Das Ende verläuft ähnlich: Schurke besiegen, die Welt retten.

So. 

Das ist grob umrissen die Story von Pokémon Mystery Dungeon: Erkundungsteam Himmel, beziehungsweise Team Blau und Rot. Spiele, die ich für dieses Review erneut durchgespielt habe. Denn ich konnte schlichtweg nicht glauben, dass Game Freak dermaßen viel aus den Mystery-Dungeon-Titeln kopieren würde. Das war für mich ein Schlag ins Gesicht, weil Erkundungsteam Himmel als eines der besten Pokémon-Spiele überhaupt gilt – in erster Linie wegen der exzellenten Story. Bis heute habe ich weder ein Remake, noch ein Remaster des Titels bekommen. Und dann sitze ich plötzlich vor Pokémon-Legenden: Arceus und fühle mich, als hätte ich Erkundungsteam Himmel in der Hand. Um genauer darauf eingehen zu können, erzähle ich weiter, wie es in Arceus weitergeht.

Mystery Dungeon oder Arceus?

Nach dem Intro falle ich aus einem Spalt im Himmel auf die Erde, genauer gesagt lande ich an einem Strand. Geweckt werde ich von einem Menschen und seinen drei Pokémon, die mich anstarren. Der Mensch gibt sich als Professor Laven zu erkennen und erklärt mir, dass er gesehen hat, wie ich vom Himmel gefallen bin. Ich erzähle ihm, dass ich nicht weiß, wer ich bin oder woher ich komme. Professor Laven lädt mich in das Hauptquartier der Galaktik-Expedition ein. Die Galaktik-Expedition ist eine Organisation, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, ihre Mitglieder in die Region Hisui zu entsenden und zu erforschen. Gesagt, getan. Mit der Zeit steige ich im Rang auf und erhalte immer bessere Belohnungen.

Der Riss im Himmel, durch den ich in die Welt gekommen bin, wird im Laufe der Geschichte immer bedrohlicher. Die Menschen im Dorf geben mir dafür die Schuld, weil ich aus besagtem Riss in ihre Region herabgefallen bin. Ich werde aus dem Forschungstrupp ausgeschlossen und verliere jegliches Vertrauen, das mir geschenkt wurde. Die anderen Teams, die meinem Forschungstrupp ähnlich sind, geben mich aber nicht auf. 

Wenigstens bleibt mir noch Volo, ein Händler, der mich während des Abenteuers begleitet. Am Höhepunkt der Story entpuppt er sich jedoch als der wahre Antagonist, der den Riss im Raum-Zeit-Gefüge zu verantworten hat. Indem ich ihn besiege, rette ich die Welt.

Beeindruckende Optik, zweifelsfrei – wenn wir im Jahr 2010 wären.

Soweit die Grundrisse von Pokémon-Legenden: Arceus, des neuen Flaggschiffes von Game Freak. Mir kann niemand erzählen, dass diejenigen, die die Story dieses Titels geschrieben haben, noch nie in ihrem Leben etwas von Pokémon Mystery Dungeon gehört haben. Außerdem würde ich gerne diejenigen treffen, die Legenden Arceus auf Metacritic als the most innovative title of the series oder gar best Pokémon game ever made betitelt haben. An all jene: Ich kann euch Pokémon Mystery Dungeon als inhaltlichen Vergleichstitel empfehlen.

Das Allerschlimmste ist aber, dass ich verstehe, woher die guten Bewertungen kommen. Denn so sehr ich dieses Spiel für das verachte, was es vorgibt zu sein – so sehr liebe ich es für das, was es wirklich ist. Es ist nicht weniger als eine pokémonische Revolution. 

Vor einigen Absätzen habe ich von Game Freaks großem Wagnis gesprochen. Diese Bezeichnung nehme ich trotz alldem nicht zurück. Stattdessen muss ich sie nach diesem ellenlangen Rant noch unterstreichen. Pokémon-Legenden: Arceus macht mir leider wahnsinnig viel Spaß. Nach einem Vierteljahrhundert hat Game Freak zum allerersten Mal einen Schritt weg vom sonst gewohnten, linearen Gameplay gewagt. Und das finde ich gut, sehr gut sogar.

Mit Videospieljournalismus ist es aber ein bisschen wie mit Sportjournalismus: Wenn du dich ganz allgemein auf einer persönlichen Ebene für die Sache interessierst, tendierst du dazu, nicht auch einen Schritt zurückzugehen und die Sache nüchtern von außen zu betrachten. 

Die Loslösung vom bewährten Konzept

Ich liebe Pokémon seit ich denken kann. Ich habe mit diesen Spielen Lesen und Schreiben gelernt, sie waren jahrelang ein emotionaler Rückzugsort für mich. Es verbindet mich sehr viel mehr mit Game Freak, als ich zugeben möchte. Deswegen fällt es mir nicht leicht, Arceus zu zerpflücken. Aber ich muss es tun – auch deshalb, weil ich das Gefühl habe, dass sonst nur wenige den Neutralitätsschritt zurück gegangen sind, um dieses Spiel zu rezensieren.

Denn was mir an vielen Reviews aufgefallen ist, die ich für diese Zeilen hier gelesen habe: Einzig und allein das Wagnis, genauer gesagt die lang ersehnte pokémonische Revolution seitens Game Freak, hat in den allermeisten Fällen eine Bewertung von 90 Prozentpunkten oder sogar mehr gerechtfertigt – der überwiegende Rest wurde quasi bewusst ausgeblendet. What the hell?

Um zu verstehen, warum Pokémon-Legenden: Arceus viele Spieler*innen so fesselt, muss betont werden, dass Pokémon all die Jahre ein bewährtes Konzept war. Du bekommst dein erstes Pokémon, du fängst neue Pokémon, du trainierst sie, du erlangst Orden, du bekämpfst ein paar Schurk*innen, du wirst Champion. Ein jahrelanges Erfolgsrezept. Besonders auffällig war immer die lineare Handlung: Du musstest zuerst in Stadt A, um nach Stadt B zu gelangen. 

Pokémon-Legenden: Arceus funktioniert nicht so. Es gibt keine Arenen, keine Arenaleiter*innen, nicht einmal Pokémon-Trainer*innen. Ja, richtig gelesen: Pokémon-Kämpfe gegen andere Menschen gibt es grundsätzlich nicht, sondern nur vereinzelt. Aber es gibt sogenannte Königinnen und Könige, die sich als übermächtige Pokémon entpuppen. Diese müssen zwar in einer bestimmten Abfolge aufgesucht werden – aber was dazwischen passiert, bestimmt jede*r Spieler*in selbst. Am ehesten vergleichbar ist das mit Zelda: Breath of The Wild. Sehe ich etwas Spannendes in weiter Ferne, kann ich prinzipiell dorthin marschieren. Ob mein Skill für diese Region ausreicht, steht auf einem anderen Blatt. Möglich ist es aber schon.

Gegen wilde Magbrant oder Rihornior kämpfen? Früher undenkbar.

Gleichzeitig widerstrebt mir der Vergleich mit Breath of The Wild, denn in so vielen Punkten könnten die beiden Spiele nicht unterschiedlicher sein. Wer sich beispielsweise je darüber beschwert hat, dass die Map von Breath of The Wild „leer“ sei, dem sei die Map von Pokémon-Legenden: Arceus ans Herz gelegt. Ich saß mehrfach mit dem Controller in der Hand vor meinem Fernseher und habe vor Unglaube innehalten müssen.

Die Map ist so leer, so hässlich, so uninspiriert, dass ich mich gefragt habe, ob sie erst kurz vor Release konzipiert und dann doch nicht fertig wurde. Ich erinnere mich kaum an Interaktionen innerhalb der Overworld. Es gibt wenig, abgesehen von herumlaufenden Pokémon und einigen Bäumen oder Felsen, zu denen ich Pokémon schicken kann, die dann Materialien für mich einsammeln. 

Innerhalb der Map wirkt alles wie mit Wasserfarben gemalt und dann verschmiert. Bäume bestehen aus Zahnstocherästen und Pappblättern, Sträucher und Büsche wirken mehr wie Theaterrequisiten als richtige Flora. Gras sprießt in einzelnen, zentimeterdicken Halmen aus dem Boden und die wenigen „Blumen“ verdienen ihre Bezeichnung nicht. Die einzelnen Texturen, insbesondere all jene, die mit Gestein zu tun haben, sahen schon in Sonic Adventure DX im Jahr 2003 besser aus. Manche Pokémon wirken wie Knetfiguren und die menschlichen Charaktere haben so viel Charme wie eine Fleischwurst aus den Billigregalen deutscher Discounter.

Wow ist das ugly.

Dass sich dieses Spiel „Open World“ schimpfen darf und dafür teils in den Himmel gelobt wird, ist eigentlich ein Skandal. Ja, schon die Trailer zu Pokémon-Legenden: Arceus sind sehr offen mit dem de facto nicht vorhandenen Inhalt umgegangen, aber rechtfertigt dieser Umstand, dass das Spiel zum vollen Preis unter die Leute gebracht wird?

Zähle ich dann noch hinzu, dass die Story im Grunde eine umgeschriebene Version eines bisherigen Pokémon-Spin-Offs ist, stellt sich die Frage: Wie viel Originalität bleibt dann noch übrig?

Okay, leider doch sehr viel.

The good, the bad, and the ugly

Denn das neue Konzept, mit dem Pokémon gefangen und gegeneinander antreten können, ist unverschämt gut. Und ein Feature, das ich viele Jahre lautstark eingefordert habe, ist endlich wahr geworden: ein nahtloser Übergang von der Overworld in einen Pokémon-Kampf. Ganz ohne störende Animation dazwischen. Pokéball werfen und los.

Es war noch nie so leicht und vor allem noch nie so addictive, Pokémon zu fangen. Ich hatte zum allerersten Mal richtig Lust, den Pokédex zu füllen. Es war nicht mehr nur eine Aufgabe, die mir von einem*einer Professor*in aufgetragen wurde. Nein. Es war nun mein selbst gewähltes Ziel, alle vorhandenen Pokémon zu fangen (deren Auswahl übrigens ein Best-of aller bisherigen Editionen ist). 

Pokémon fangen und gegen sie kämpfen – noch nie war es einfacher, spaßiger, und so addictive.

Die eigentlich grässliche Overworld rückt in den Hintergrund, sobald die Jagd auf Pokémon beginnt. Per Schultertaste ziele ich entweder mit einem meiner Pokémon auf die wilde Kreatur oder ich schleiche mich von hinten an und werfe unbemerkt einen Pokéball. Letzteres bietet den Vorteil, dass prinzipiell schwer fangbare Pokémon ganz ohne Kampf in das eigene Team wandern – trotz oftmals 10 bis 30 Leveln Unterschied.

Gefangene Pokémon lassen sich zudem erstaunlich gut trainieren. Mussten Neuzugänge früher erst durch intensive Individualbetreuung auf Teamniveau gebracht werden, so ist es heute easy-peasy möglich, frisch gefangene Pokémon aufzuleveln. Sie haben gute Stats, und fühlen sich nicht mehr an wie auf Wish bestellt, sondern wie vollwertige, kampfbereite Pokémon, die mehr sind als nur Slotfüller.

Endlich.

Ich mag die neue Art, Pokémon zu erleben, und ich möchte sie auch nicht mehr missen. Aber ich lasse mich als Spielerin auch nicht billig abspeisen. Nicht mehr.

Ich erinnere mich nicht mehr daran, um was es sonst noch in der Story ging. Ich vergaß Namen der Charaktere, vergaß, wie Orte heißen und auch sonst bekam ich kaum etwas mit. Denn das eigentliche Abenteuer hinter Pokémon-Legenden: Arceus ist das Wagnis, das Game Freak nach 25 Jahren eingegangen ist. Dieser Titel hat sich endlich aus den Fängen seiner Vorgänger gelöst. Das Franchise hat in seinen Anfangsjahren so gut funktioniert, weil es die Technik, die der Branche damals zur Verfügung stand, bestens ausgenutzt hat. Über die Jahre haben sich Megaflops zu Teraflops entwickelt, Game Freak aber hat an seinem bewährten Konzept festgehalten. Bis jetzt.

Und das liebe ich. Aber nicht, weil Pokémon-Legenden: Arceus ein so unfassbar gutes Spiel ist, sondern weil es ein so unfassbar guter Pokémon-Titel ist. Und dazu noch einer, der eigentlich keine Existenzberechtigung hat.

An vielen Stellen habe ich gelesen, dass Pokémon-Legenden: Arceus lediglich der Testballon sei, um zu sehen, wie die Spieler*innen mit den Änderungen umgehen würden. 

Genau das dachte ich auch. Bis zum 27. Februar 2022 – fast genau einen Monat nach Release von Arceus.

An jenem Tag wurden die Editionen Pokémon Karmesin und Pokémon Purpur für Ende 2022 angekündigt. Mit denselben Features, die ich auch in Pokémon-Legenden: Arceus gesehen habe. Diese Titel müssen spätestens zur selben Zeit, in der auch die Produktion von Pokémon-Legenden: Arceus in der finalen Phase war, konzipiert worden sein. Eigentlich noch sehr viel früher. Game Freak wusste also schon vor Release von Arceus, dass dessen revolutionäre Ansätze bestehen bleiben würden.

Ich weiß es doch auch nicht mehr.

Welche Daseinsberechtigung hat Pokémon-Legenden: Arceus denn noch, nachdem die Story ein reines Recyclingprodukt ist (und übrigens auch die Musik, vergleicht man diesen Track aus Arceus mit diesem hier aus Undertale oder diesem aus Mystery Dungeon) und die Overworld eine Zumutung?

Eigentlich keine. 

Und so gerne ich diesem Spiel eine Topwertung geben würde, ich kann es nicht. Mein Herz hängt an Pokémon, aber meine rosarote Brille habe ich allerspätestens bei den verkommenen Remakes von Pokémon Diamant und Perl abgesetzt. Und wenn ich ehrlich bin, eigentlich schon bei Pokémon X und Y.

Ich gönne Game Freak diesen vermeintlichen Triumph schlichtweg nicht. Ja, ich hatte sehr viel Spaß an Pokémon-Legenden: Arceus. Das leugne ich nicht. Ich mag die neue Art, Pokémon zu erleben, und ich möchte sie auch nicht mehr missen. Aber ich lasse mich als Spielerin auch nicht billig abspeisen. Nicht mehr.

Ich kann ein Videospiel nicht für etwas preisen, das es nicht hat: Inhalt, Grafik, Story. Ungeachtet dessen, was mich emotional mit ihm verbindet. Ich erkenne Pokémon-Legenden: Arceus für das an, was es hat: Originalität. Aber eben nicht mehr.

Comments (2):

  1. Daniel Rausch

    April 28, 2022 at 12:20 pm

    Ich hab deinen Artikel bereits bei WASTED gelesen und geteilt, gebe aber hier auch noch mal meinen Senf dazu. Ein toller und sehr gut geschriebener Artikel, gut zu lesen und ein Stil, welcher mir zusagt und Spaß macht zu lesen. Weiter so 👍🏻

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  2. Chris

    Juni 25, 2022 at 6:30 pm

    Schon erschreckend, dass es mittlerweile sogar Mobilegames gibt die ein höheres Produktionsniveau haben als das, was Gamefreak die letzten Jahre so lieblos rausgerotzt hat.

    Habe seit der ersten Generation bis zum 3DS alle Editionen gespielt, aber die Switch Games lasse ich links liegen und das schmerzt mich nicht mal mehr. Für solche halbgaren Machwerke ist mir meine Zeit einfach zu schade. Was mich eher schmerzt ist, dass es wenig Grund zur Hoffnung gibt mal wieder ein rundum gutes Pokemon Spiel zu bekommen, weil bei den Verantwortlichen sämtliche Leidenschaft für das Medium unter Geldbergen erstickt wurde.

    Kritische Stimmen gibt es leider noch viel zu wenige, der Verstand der meisten Fans wird einfach jedes mal von der Nostalgiekeule ausgeknockt und dann passt das schon so, und eigentlich ist es ja auch für Kinder gemacht. Achso, ich bin dann wohl einfach zu alt für diesen Scheiß…

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